Lokales Engagement und globale Verantwortung

Die Atefa-Mädchenschule in Afghanistan – Lokales Engagement und globale Verantwortung

Estalef, die „Weintraubenstadt“, gegründet von Alexander dem Großen, hat heute rund 37.000 Einwohner. Sie ist die Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts in der Provinz Kabul in Afghanistan und etwa 34 Kilometer Luftlinie von Kabul entfernt. In Estalef gibt es eine Schule, die Atefa-Mädchenschule. Bis zum Sommer letzten Jahres besuchten diese Schule Mädchen und junge Frauen im Alter von 6 bis 18 Jahren, unterrichtet von 20 Lehrerinnen. Dann kam der 15. August 2021: Am Nachmittag dieses Tages eroberten die Taliban Kabul innerhalb weniger Stunden, drangen in den Präsidentenpalast ein und übernahmen die Macht. Seitdem versinkt das Land in Chaos und Elend, besonders leiden Frauen und Kinder. Die Atefa-Mädchenschule wurde nach der Machtübernahme geschlossen.

Rund 6000 Kilometer entfernt, in Lüdenscheid sorgen sich Dr. Arnhild und Rolf Scholten und Parvin und Dr. Anwar Nabiyar um die Schülerinnen und Lehrerinnen. 2003 wurde die Schule von den Geschwistern Dr. Anwar und Nasrin Nabiyar gegründet, Estalef ist ihre ehemalige Heimatstadt, eine Kreisstadt vergleichbar mit Lüdenscheid. Seit 1972 lebt Dr. Anwar Nabiyar in Deutschland, seit den 90er Jahren praktiziert es als Urologe in der Bergstadt. 2002, nach 30 Jahren, kehrt er das erste Mal nach Afghanistan zurück. Ein beispielhaftes Engagement beginnt.

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Zunächst war die Atefa-Schule nur als Mittelschule für etwa 150 Mädchen gedacht. Doch der Ansturm auf die Schule war enorm, zeitweise wurden 600 Schülerinnen unterrichtet. Das Schulgebäude wurde vergrößert, der Lehrkörper wuchs. Im Jahr 2007 konnte die Schule mit Genehmigung des Kultusministeriums in Kabul in ein Gymnasium umgewandelt werden. Am Ende des Schuljahres 2010 legten 19 junge Afghaninnen erfolgreich die Abiturprüfung ab.

„Für die Region ist es das erste Mal, dass Mädchen dort Abitur machen. Dies ist ein wichtiger und gesellschaftspolitischer Meilenstein für die Region und das Land. Investitionen in die Bildung von Mädchen und Frauen sind neben ihrer wirtschaftlichen Bedeutung auch die effizienteste Strategie zur Veränderung der archaischen, frauenfeindlichen, entwicklungshindernden Gesellschaftsstrukturen Afghanistans“, heißt es im Bericht der Hilfsorganisation „Ein Herz für Kinder“ 2019. Durch die Unterstützung der Organisation konnte die Schule ausgebaut und vergrößert werden.

Seit dem Jahr 2004 ist das Lüdenscheider Bergstadt-Gymnasium die Partnerschule der Atefa-Mädchenschule. Im März 2004 wurde dort folgender Beschluss gefasst: „Schüler, Eltern und Lehrer wollen die Atefa-Mittelschule für Mädchen in Estalef (Afghanistan) durch eine Reihe von Spendenaktivitäten und die Übernahme von Patenschaften unterstützen. Außerdem soll das Thema im Rahmen von Projekten und Unterrichtsreihen behandelt werden.“

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Die Idee hinter dem Beschluss war: Jede Klasse des BGLs soll eine Patenschaft für zwei Schülerinnen übernehmen. Jede Schülerin und jeder Schüler spenden dafür 50 Cent im Monat. Dadurch kann jede geförderte Schülerin in Afghanistan ca. 7,50 Euro im Monat erhalten. Von diesem Geld können die Mädchen Schulmaterial kaufen, sie brauchen es aber auch für Kleidung und den Lebensunterhalt ihrer Familien. Die Unterstützung hat dazu geführt, dass die Mädchen die Schule bis zum Abitur besuchen und nicht, wie immer noch in armen Familien in Afghanistan üblich, mit 12-14 Jahren verheiratet werden. Mit der Heirat endet der Schulbesuch, weil die Mädchen ihre neuen Familien versorgen müssen.

Dieses lokale Engagement in Lüdenscheid und von LüdenscheiderInnen hat also ganz konkrete globale Auswirkungen: 150 junge Frauen der Atefa-Schule wurden ausgebildet, darunter knapp 70 Lehrerinnen, 45 Hebammen, 5 Ärztinnen. Hinzu kommen Studienabschlüsse in Jura, Design, Informatik, BWL und Sprachen. 150 junge Frauen also, die dem Frauenbild der Taliban widersprechen, die für eine moderne Gesellschaft stehen. Dass dies durch lokales Engagement passieren kann, macht Hoffnung, obwohl die Entwicklung in Afghanistan dramatisch ist. Doch das Drama, dass sich dort abspielt, wird derzeit vom Ukrainekrieg und Energiekrise überschattet. In den Medien findet eine Berichterstattung über die Situation in Afghanistan derzeit kaum statt.

Zeitgleich blickt die Welt auf den Iran. Seit Mitte September demonstrieren dort Tausende Menschen gegen das Regime. Auslöser der Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Sie war von der Sittenpolizei festgenommen worden, weil sie gegen die islamischen Kleidungsvorschriften verstoßen haben soll, und starb am 16. September in Polizeigewahrsam. Bei den landesweiten Protesten kommt es regelmäßig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Auch an Schulen kämpfen vor allem Mädchen für ihre Rechte. Und weltweit solidarisieren sich Frauen mit den Demonstrierenden. Weltweite Aufmerksamkeit kann – hoffentlich - einiges verändern. Allerdings dürfen Journalistinnen und Journalisten aus dem Ausland nicht in den Iran einreisen, sodass es kaum gesicherte Informationen von der Situation im Land existieren. Aber auch im Iran selbst gibt es keine unabhängige Berichterstattung. Als Reaktion auf die Proteste hat die iranische Regierung zudem den Zugang zum Internet stark eingeschränkt. Zwei der bekanntesten Fernsehmoderatoren und Entertainer Deutschlands unterstützen die systemkritische Protestbewegung im Iran: Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf haben ihre persönlichen Instagram-Accounts an zwei iranische Aktivistinnen verschenkt. Zusammen haben sie fast zwei Millionen Follower (Süddeutsche Zeitung, 27. Oktober 2022).

schuelbaenke 2012

Wenn man in der Begrifflichkeit „Follower“ bleibt, muss man feststellen, dass die Atefa-Mädchenschule diese „Reichweite“ nicht hat. Aber auch das Engagement Einzelner, wie das der Ehepaare Scholten und Nabiyar, die Unterstützung durch die Schüler, Lehrer und Elternschaft des Lüdenscheider Bergstadt-Gymnasiums und die Hilfe von lokalen Sozialclubs und zahlreichen Lüdenscheider Bürgerinnen und Bürger konnten in Estalef etwas bewegen, dass trotz der katastrophalen Lage in Afghanistan noch nachwirkt.

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