Ein Lüdenscheider Revolutionär

Wilhelm Gerhardi: ein Idol unserer demokratischen Zukunftserwartungen?

Vor rund 175 Jahren bot die Revolution von 1848/49 Demokraten und Liberalen die Möglichkeit zur umwälzenden Veränderung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse des politisch erstarrten, von modernisierungsfeindlichen Eliten beherrschten Deutschen Bundes. Die deutsche Revolution war zuerst von Gewalt geprägt – und wies auch im preußischen Westfalen Züge einer ‚socialen‘ Revolution auf. Der Wunsch nach Veränderung war 1848 angesichts des Antagonismus zwischen der Beschleunigung der wirtschaftlich-industriellen Entwicklung einerseits und dem Rückwärtsgewandt-Restaurativen des Staatlichen und Politischen andererseits immens.

Nach manchen eher nur symbolischen Regierungswechseln im Frühjahr 1848 eröffnete sich durch die „Umleitung“ der gewalttätigen politisch-revolutionären Energie in Wahlen und durch die neuen oder neu zusammengesetzten Parlamente die Chance zur Gründung eines Nationalstaats. Die neugewählte, erste Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche wäre nach Verabschiedung der „Reichsverfassung“ in einen kontinuierlich tagenden Reichstag übergeleitet worden – in ein erstes deutsches Parlament. Die Möglichkeiten zur Zurückdrängung der Macht der tonangebenden Eliten – der ‚Fürsten‘ und ihrer Machtsysteme in Bürokratie und Militär – waren real. Ein aus Sicht der Liberalen und Demokraten erfolgreicher Abschluss der Revolutionsmonate hätte einen Demokratisierungsschub ausgelöst. Doch der preußische König Friedrich Wilhelm IV. lehnte die ihm angetragene Kaiserwürde und die Reichsverfassung ab.

Daraufhin wollte wie viele andere deutsche Demokraten auch der Lüdenscheider Unternehmer Wilhelm Gerhardi die angebahnten oder durchgesetzten politischen, sozialen und rechtlichen Errungenschaften der ersten Revolutionsmonate sichern helfen. Er stellte sich im Mai 1849, als bürgerkriegsähnliche Zustände in Iserlohn und der märkischen Region vorherrschten, kämpferisch gegen die preußische Militär-Monarchie. Unterbinden wollte er, dass märkische Bürger als Landwehrsoldaten in Süddeutschland „verheizt“ wurden. Familienväter aus Westfalen durften seiner Auffassung nach niemals bei der Niederschlagung der Bewegung für die Durchsetzung die Reichsverfassung eingesetzt werden.

Wurde Gerhardi durch seinen Widerstand im märkischen Industriegürtel gegen die reaktionären Offiziere und Beamten um Friedrich Wilhelm IV. damals zu einem „Idol demokratischer Zukunftserwartungen“, zu einer Persönlichkeit, die viele andere Menschen bewunderten, mit der sie sich identifizierten? Kann man Gerhardi – zumindest innerhalb unserer märkischen Industrieregion – als Verkörperung demokratische Werte bezeichnen? Eignet sich seine Biografie für uns als Leitfigur des Widerstandes gegen Unrechtssysteme, die ihre Interessen mit militärischer Gewalt durchsetzen? Sollte er, der nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt, Prozess und Freispruch nach der Revolution in Lüdenscheid von vielen Lüdenscheiderinnen und Lüdenscheidern mit Jubel empfangen, dann aber weitgehend vergessen wurde, heute als Leitfigur wieder populär gemacht werden? Taugt er und sein 1846 entstandenes Foto dazu, für unsere Region zu einer Ikone der demokratischen Werte von 1848/49 aufgebaut zu werden, selbst wenn diesem Foto – anders als medial inszenierte Ikonen des 20. und 21. Jahrhunderts wie heute der ukrainische Staatspräsident Selenskyj – die Selbstinszenierung des Porträtierten und dessen Familie weitgehend fremd zu sein scheint?

Ein Lüdenscheider Revolutionär


Der Zugang zu historischen Persönlichkeiten über den Begriff der „Ikone“ ist auch ohne den direkten Bezug zu einer ‚inszenierten‘ Fotografie oder die konstruierten Bilder bewegter Medien nicht abwegig. Für den „Spiegel“ war 2010 Aung San Suu Kyi mit ihrem Widerstand gegen die Militärdiktatur in Myanmar eine „Ikone der Demokratie“. Deren Vergangenheit löste in der damaligen Gegenwart Myanmars Hoffnungen für die Zukunft aus. Dieses Element der mit Zukunftshoffnungen verbundenen besonderen Persönlichkeiten gilt gleichfalls für diejenigen „Ikonen“, um die es nachfolgend gehen wird. Dabei muss kaum betont werden, dass die einzelnen geschichtlichen Persönlichkeiten sehr wenig Übereinstimmungen aufweisen, kaum miteinander vergleichbar sind und untereinander ein differenziertes Gefälle aufweisen, was sie im Gegensatz zu den anderen jeweils zur „Ikone“ hat werden lassen – ein Gefälle, das sie auch vom in der Mitte des 19. Jahrhunderts fotografierten Gerhardi trennt.

che

Es ist nicht möglich, den im Zusammenhang mit Gerhardi abgebildeten historischen Persönlichkeiten – Wolodymyr Selenskyj, John F. Kennedy sowie Ernesto „Che“ Guevara – ohne differenzierte historische Einordnung hier gerecht zu werden. Und Gerhardi, Selenskyj, Kennedy und Guevara weisen in vielerlei Hinsicht wenig Gemeinsamkeiten auf. Kann der Lüdenscheider Revolutionär/ Unternehmer Gerhardi mit den drei anderen Persönlichkeiten überhaupt in einem Atemzug genannt werden – und zwar so, dass das verbindende Element als solches unmittelbar einleuchtend ist? Um die Fragen zu beantworten, soll nachfolgend – unter Weglassung wichtiger Details zu deren historischer Verortung – durch Zuschreibungen zunächst eine Kurzformel für das Wesentliche der aktuellen Wahrnehmung dieser Persönlichkeiten bzw. der mittlerweile ausgebildeten Erinnerung im kollektiven Gedächtnis gefunden werden.

selensky

Die Wahrnehmung Selenskyjs kann als die eines charismatischen Militär- und Staatslenkers ganz neuen Typs mit den zusätzlichen Sympathie-Werten umschrieben werden, die dem „David-gegen-Goliath-Prinzip“ geschuldet ist. Diese neuartige Wirkung wurde nicht nur erzeugt durch die weltumspannende Präsenz in den Medien, sondern auch durch die ihm digital eröffneten Möglichkeiten, in Parlamenten und Auditorien von globaler Bedeutung zu sprechen. Mit seinem olivgrünen T-Shirt bzw. Bekleidungsoberteil als der spezifischen Farbe des Militärischen erzeugt er um sich nicht die Aura des zivilen Staatsmannes, sondern die des Militärführers in Permanenz. Bestimmend für die Akzeptanz ist, dass es Selenskyj vermochte, hinter der Formel der Verteidigung und des Widerstandes gegen einen kriegerisch-aggressiven, vor massenhafter Verletzung der Menschrechte nicht zurückschreckenden Diktator eine breite Front staatlicher und ziviler Unterstützer zu formieren. Diese Front ist so breit, dass dieses Konsensformat und mit diesem er selbst als ein neues geschichtliches Phänomen wahrgenommen werden. Debatten über die Zukunft der ukrainischen Demokratie werden hingegen vorerst nachrangig behandelt. Selbst wenn man den Politikstil und die politischen Inhalte Selenskyjs ablehnt, wird man kaum bestreiten können, dass er zur Verkörperung eines extrem wirkmächtigen neuen Politikstils geworden ist.

Die Verkörperung des jungen Amerika

Der restaurativen Nachkriegsära und Überalterung der politischen Eliten in den Vereinigten Staaten setzten die US-Demokraten die Verkörperung des jungen Amerika entgegen. Sie legten sich mit hohem Risiko – als Alternative zu dem im hysterisch-antikommunistischen Klima der Mc-Carthy-Ära aufgestiegenen Republikaner Richard Nixon – 1960 auf den Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy fest, der mit seiner in ihrer medialen Wirkung als Präsidentengattin bis heute unübertroffenen Ehefrau Jackie ins Weiße Haus einzog. Zum Bild der verjüngten Demokratie, die programmatisch Zukunftserwartungen wie die der Mondlandung innerhalb eines Jahrzehnts formulierte, gehörte auch Kennedys Bruder, Robert Kennedy, der nach Ermordung von JFK 1963 ins Präsidentenamt strebte und gleichfalls ermordet wurde. Die Morde verhinderten, dass der charismatische JFK und dessen Bruder dauerhaft in realpolitische Niederungen absteigen mussten. Die Brüder und „Jackie“ sind die Ikonen von mit Jugend verbundener Erneuerung auf dem Gipfel der politischen Macht, verbunden mit einem neuen Stil, wie ihn die mächtigste Demokratie der Welt zuvor niemals hervorgebracht und zugelassen hatte und der sich in Mode und Geschmack von Jackie Kennedy ausdrückte.

kennedy

„Che“ Guevara wird als marxistischer Revolutionär, Guerillaführer und Autor charakterisiert. Er war einer der „Comandantes“ der kubanischen Rebellenarmee, die nach einem Guerillakrieg das Terrorregime des Präsidenten Fulgencio Batista 1959 beseitigte. Dessen Herrschaft hatte sich auf den Geheimdienst gestützt. Durch den Geheimdienst ließ Batista rund 20.000 Menschen – teilweise nach Folterungen – ermorden und die Leichen zur Abschreckung auf die Straße werfen. Obschon Guevara nach Revolutionstribunalen in Havanna selbst zahlreiche Todesurteile vollstrecken ließ und auch später vor dem Einsatz von Gewalt zur Unterstützung revolutionärer Bewegungen nicht zurückschreckte, wurden sein Leben und die Umstände seines frühen Todes – im Kampf für die Befreiungsbewegung in Bolivien – zum Gegenstand eines exzeptionellen Personenkultes. Das Foto von Alberto Kosta „Guerillero Heroico“, das berühmteste fotografische Abbild einer Person überhaupt, gilt als Medienikone. Der Berufsrevolutionär und Verkörperung revolutionären Geistes hatte sich durch das Foto vom kultisch verehrten Helden zur Bild-Ikone der Befreiungsbewegungen schlechthin gewandelt.

Wurde Guevara über Medien und ‚Propaganda‘ also zur ‚Ikone von Befreiungsbewegungen‘, Selenskyj neuerdings zur ‚Ikone charismatischer Staatenlenker im medial-digitalen Zeitalter‘ und JFK in Verbindung mit der unerreichten Stil-Ikone Jackie Kennedy zur ‚Ikone der jugendlichen Erneuerung‘ der sich in den 1960er Jahren neu konfigurierenden führenden Demokratie in der Welt, dann sind uns diese Menschen aufgrund ihres – kaum ernsthaft bestreitbaren – Ikonen-Staus irgendwie nah, wenngleich viele von uns kaum mehr über sie wissen als ihren Namen. Eigentlich sind sie uns fern.

Eigentlich sind sie uns fern

Ist es nicht an der Zeit, aus unserer Geschichte, aus unserem Lebens- und Wirkungsraum Idole, Verkörperungen und Vorbilder der Bewahrung unserer Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit zu suchen und pointiert den Abstand von hier zu den fernen Ikonen zu verkürzen? Es müssten Persönlichkeiten sein, deren Handeln beispiel- und vorbildhaft ist und bei denen wir als Region das Glück haben, über frühe fotografische Porträtaufnahmen aus dem von politischer Beschleunigung geprägten Revolutionsjahrzehnt mit den Jahren 1848/49 zu verfügen. Das Foto von Gerhardi – eigentlich ist es ein Famlienfoto – ist vollkommen unprätentiös, ist bisher nicht medial, gleichsam mit propagandistischer Absicht aufgeladen und instrumentalisiert worden, bietet aber doch Anknüpfungspunkte, interpretativ den schmalen Grat zwischen wirtschaftsbürgerlichem Familienvater und bürgerlichem Revolutionär mit frühsozialistischer Verwandtschaft abzuschreiten.

wilhelm gerhardi

Eine Regionalgesellschaft benötigt Leitfiguren, Idole oder sogar Bildikonen, an denen sie sich ausrichten kann. Wilhelm Gerhardi könnte und sollte insofern im kollektiven Gedächtnis Südwestfalens fest verankert werden. Eine solche Verankerung ist erforderlich, wenn eine Regionalgesellschaft sich an eigenen, also regionalen Leitfiguren orientieren möchte – Leitfiguren, die mit dem Risiko einer möglichen Strafverfolgung wegen Aufruhrs oder Hochverrats aus politischen und sozialen Gründen sich kompromisslos für demokratische Werte und eine demokratische Verfasstheit des Staates einsetzten. Orientierung an diesen Leitfiguren ist hilfreich, wenn man eigene demokratische Zukunftserwartungen verteidigen, populär halten möchte. Dabei kann man gegenüber diesen Persönlichkeiten die erforderliche kritische Distanz stets wahren.

Das regionale revolutionär-demokratische Erbe von 1848/49 blieb allerdings lange weitgehend verschüttet – mit wenigen Ausnahmen bis 1998. Noch in den Jahren 1948/49 mit Beginn des Kalten Krieges sahen in Westdeutschland anlässlich des 100jährigen Jubiläums interessierte Kreise davon ab, an politisch-soziale Aufstandsbewegungen zu erinnern, bei denen es nicht um Untergrabung oder Zerstörung der Demokratie ging, sondern um deren Bewahrung. Man muss es mit Nachdruck sagen: Was für eine schreckliche Verwechslung! Denn Gerhardi repräsentiert die allerbesten demokratischen Traditionen, auf sie wir voller Stolz zurückblicken können.

Bekenntnis zum Verfassungsstaat

Denn das Bekenntnis zum Verfassungsstaat und gegen die im Bürgerkrieg militärisch aggressiv operierende preußische Militär-Monarchie, welches Gerhardi am 9. Mai 1849 bei einer öffentlichen Versammlung mit Landwehrsoldaten und Aufstandswilligen ablegte, ist das überdauernde Zeugnis seiner demokratischen Grundüberzeugung: „Wir wollen eine Verfassung, die jedem, dem Armen wie dem Reichen, dem Hohen wie dem Niederen gerecht wird. Das Ministerium des Königs hat uns dieser Verfassung beraubt, es hat die letzte Brücke zwischen König und Volk zerschnitten. Es hat einen Abgrund eröffnet. Wir wollen als vom König einberufene Landwehr nicht die Waffen gebrauchen gegen unsere Brüder, die die Frankfurter Reichsverfassung anerkennen. Hat das Ministerium des Königs Henkersknechte nötig, … wir hier sind zu gut dazu. Es lebe die Reichsverfassung!“

Vier Tage später schrieb er an einen befreundeten Demokraten aus Hagen, der an der Spitze von 400 bewaffneten Männern stand. Diese Männer zogen nach Iserlohn, wo bald in der Konfrontation mit preußischen Truppen bürgerkriegsähnliche Zustände vorherrschten. Gerhardi betonte, dass viele Landwehrmänner kürzlich von politischen Bewegungen erfasst worden seien. Er beabsichtigte, diese und andere Bevölkerungsteile im märkischen Industriegebiet kurzfristig von Grund auf zu politisieren. Er hoffte, der „Aufstand“ werde dann „allgemein werden“. Er hoffte auf eine Fundamentalpolitisierung im demokratischen Sinne.

Gerhardi – Schwager des „Frühen Socialisten“ Karl Grün – musste sich vor Gericht verantworten. Wie kein anderer deutscher Wirtschaftsbürger hatte er mit großem Risiko seine demokratischen Grundüberzeugungen verteidigt. Die Daguerreotypie von 1846 zeigt ihn schwarz gekleidet mit seinen Kindern und seiner Frau Berta, der geborenen Grün.

Sein Blick fixiert uns – vielleicht sollte man diesen Blick als Ermunterung verstehen: Formulieren wir in unserer Gegenwart unsere Hoffnungen und Erwartungen auf eine demokratische Zukunft, so bietet in der Vergangenheit unserer Stadt und Region kaum jemand mehr Anknüpfungspunkte, zu einer geschichtlichen Leitfigur unserer demokratischen Grundüberzeugungen zu werden. Die Bildaufnahme von 1846 – medial gut verbreitet – besitzt das Potential, Gerhardi zur Ikone werden zu lassen.

Ein Lüdenscheider Revolutionär