Quo vadis Lüdenscheid?
„Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Bis Solingen ist er nicht gekommen. Aber fünfundzwanzig Kilometer weiter östlich, im Zeltlager in Lüdenscheid, schien die Weltrevolution bereits geglückt. Nein, Lüdenscheid bleibt für mich immer verbunden mit der Weltrevolution und Lenin“, so der Autor und Philosoph Richard David Precht in einem Interview mit dem WDR am 27. Juni 2009.
Lüdenscheid, die Hauptstadt der Revolution – ein charmanter, wenngleich absurder Gedanke. Und doch gibt er Anlass, über das Image der Stadt nachzudenken. Luidolvessceith, Lünsche, Bergstadt, Drahtstadt, Knopfstadt, Kunststoffstadt, Stadt des Lichts, Denkfabrik? Oder am Ende doch die „Stadt mit der maroden Brücke“?
Im Laufe der Geschichte Lüdenscheids haben sich Stadtväter und -mütter, Stadtplaner, Unternehmer, Politiker, Künstler und Kreative viele Gedanken darüber gemacht, welche Stadt man sein könnte, sein möchte. Einigkeit herrschte und herrscht – so scheint es – darüber nicht. Aber der Reihe nach…
Der erste Mensch
Wer der erste Siedler war, der in Lüdenscheid einen Hof baute und bewohnte, wird man nie erfahren. Erstmals erwähnt wird Lüdenscheid in einer Urkunde aus dem 11. Jahrhundert, im Jahr 1114 wurde eine Burg errichtet, der Turm der heutigen Erlöserkirche wurde vermutlich um 1200 gebaut, die Stadtrechte im Jahr 1268 verliehen. Im Spätmittelalter war man ein bedeutender Freigerichtsplatz der westfälischen Veme, hier wurde im Namen von Kaiser und Reich für den ganzen deutschen Sprachraum Recht gesprochen.
Eisernes erstes Image
Ein erstes „Image“ bekam die Stadt im 13. Jahrhundert. Rund 700 Eisenverhüttungsstätten befanden sich in der Nähe Lüdenscheids − und die Gegend wurde so zu „einer der bedeutendsten Eisenbezirke Europas in jenen Jahrhunderten“ (Knau im „Märker“ 2/1971, S. 41 ff.). Es formte sich der Stand der „Reidemeister“, einer Mischung aus Handwerker, Kaufmann und Unternehmer. Lüdenscheid wurde Mitglied der Hanse. Eine wichtige Rolle in der schon früh industriell geprägten Gesellschaft spielte das Drahtgewerbe, speziell der „dicke Lüdenscheider Draht“.
Es brennt
Eine Katastrophe suchte die Stadt im Jahr 1723 heim: Der letzte große Stadtbrand vernichtete die Stadt am 20. August innerhalb einer Viertelstunde vollständig. Der Wiederaufbau lief nach dem Plan des Unnaer Architekten Moser sehr strukturiert. Man könnte von einer ersten stadtplanerischen Idee sprechen: Straßen sollten erweitert werden, die Häuser sollten mehr lang als breit sein, mit einheitlichen Fronten. Modern also, aber irgendwie auch wieder nicht, denn die alte Ringmauer wollte man erhalten. Erst mit Beginn der französisch-bergischen Verwaltung verschwanden die Mauern und Tore – nach fast 600 Jahren.
Und dann kamen die Knöpfe
„In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen Lüdenscheider Fabrikanten mit der Verarbeitung von Buntmetallen. Das Jahrhunderte alte Eisengewerbe lohnte sich immer weniger. Mit den modernen Techniken in anderen Gegenden konnte man nicht konkurrieren. Zur rechten Zeit begannen einsichtige Männer, Knöpfe und Schnallen zu produzieren. Daraus entwickelte sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts der erfolgreichste Zweig der Lüdenscheider Industrie“, so schreibt der Lüdenscheider Knopfexperte Dr. phil. Walter Hostert im Vorwort zu seinem Standardwerk „Im Frieden wie im Krieg“ im April 2005.
In Lüdenscheid,
da sind die Straßen breit,
da werden Knöpf‘ gemacht,
dass die Maschine kracht.
Das sollen Lüdenscheider Kinder auf den Straßen gesungen haben. Lüdenscheider Knöpfe wurden in alle Welt exportiert. Im Jahr 1887 gab es 66 „Knopffabriken“ im Stadtgebiet, Lüdenscheid war zu einer Knopfstadt geworden. Doch für eine zukunftsträchtige Imagekampagne reichte diese Vergangenheit nicht.
Moderner Städtebau
Städtebaulich trat Lüdenscheid in den 20er Jahren in Erscheinung. Ein Stadtbaurat namens Wilhelm Finkbeiner machte in Zeitschriften zum Bauwesen von sich Reden. „In Lüdenscheid ist es dem Stadtbaurat Finkbeiner gelungen, mit künstlerischem Gefühl für die individuellen Gegebenheiten des Stadtgeländes und mit feinem Empfinden für die Fehler jüngst vergangenen Städtebaus nicht nur die Härte dieser verfehlten Bauweise zu mildern, sondern auch neue künstlerische Werte in diese nun einmal bestehende Anlage hineinzutragen“, lobt ein Dr. Wilhelm-Kästner in der Zeitschrift „Moderne Bauformen“ vom Mai 1926. Und am 22. September 1927 wird in der Zeitschrift „Die Bauwelt“ die von Finkbeiner entworfene Wohnhausanlage am Honsel als überaus modern bewertet. Lüdenscheid als Vorzeigestadt im modernen und sozialen Wohnungsbau?
Die Sache mit dem Kunststoff
„Es ist nicht weit bis Lüdenscheid“ (Werbespruch der Stadt 1971). In der 1970er Jahren versuchte man der Stadt ein neues Image zu geben, dem Zeitgeist entsprechend mit Kunststoff. 1971 und 1972 fanden in Lüdenscheid die Internationale Kunststoffausstellung (ika) statt. Dem voraus gingen visionäre Überlegungen zur Stadtentwicklung. Soziologische und philosophische Debatten beschäftigten sich mit urbanem Wohnen und humanen Städten. Architekten experimentierten mit Materialien wie Stahl und Beton – und eben Kunststoff. Diese Spur nahm die 1970 in Lüdenscheid gegründete „Sauerländische Freizeit- und Erholungsanlagen Baugesellschaft mbH&Co.KG“ (SABAG) auf. Gemeinsam mit dem Kunststoffhausspezialisten Rudolf Doernbach wurde eine große Ausstellung geplant. Man setzte hier auch auf die „zukunftsgewandte und aufgeschlossene Lüdenscheider Grundstimmung.“ (Klaus Crummenerl in „Der Reidemeister“, Nr.195, August 2013, S.1669 ff.). „Die Zukunft beginnt in Lüdenscheid“ lautete der Werbeslogan der „Ika`71“, die am 1. August durch Oberbürgermeister Erwin Welke eröffnet wurde. Als die Ausstellung am 31. Oktober schloss, zählte man 320.000 Besucher. Und doch war die Ausstellung für die SABAG ein großer wirtschaftlicher Misserfolg. Auch die zweite Auflage mit dem Titel „2. Internationale Kunststoff-Haus-Ausstellung der Welt Lüdenscheid“ mit dem Werbeslogan „Die Zukunft hat begonnen“ wurde ein Flop. Aus Lüdenscheid als Weltstadt der Kunststoffhäuser wurde nichts. Zumindest ein international renommiertes Kunststoffinstitut ist seit 1988 in Lüdenscheid ansässig.
Licht und Leuchten – Stadt des Lichts?
„Seit dem Jahr 2000 unternimmt man in Lüdenscheid verstärkt Anstrengungen zur Etablierung der Marke Lüdenscheid - Stadt des Lichts. Dabei ist in Lüdenscheid ein außerordentlich großes Engagement für das Licht in seinen unterschiedlichen Facetten zu verspüren. Global Player aus Industrie und Forschung in den Themen Licht, Lichttechnik und Lichtkunst geben Gewähr für ein hohes Maß an Professionalität. Die Sensibilisierung für die Auseinandersetzung mit dem Medium Licht schlägt sich in Lüdenscheids Stadtplanung und Kunst, Bildung und Pädagogik, in Forschung und Industrie nachhaltig nieder“, liest man hier. Auch der Unternehmer Klaus Jürgen Maack wollte einen Masterplan fürs Licht. Kurz nach der Jahrtausendwende setzte er mit dem neuen ERCO-Hochregallager ein Lichtobjekt an den Stadtrand, das damals als einzigartig in ganz Deutschland gewertet wurde. „Er wollte es als Anregung für das Projekt Stadt des Lichts verstanden wissen“, heißt es im Nachruf der Lüdenscheider Nachrichten vom 9. Juli 2019. Und weiter: „Unkoordinierte Einzelaktionen waren für ihn nicht der richtige Weg, große Ziele zu erreichen. Nicht in der Firma, nicht in der Stadt… Er regte an, riss mit, sponserte – aber er stieß auch dort, wo er nicht selbst agieren konnte, an seine Grenzen. Von den Foster-Schirmen blieb nur ein Prototyp vor der Sparkassenhauptstelle am Sauerfeld.“
Im Jahr 2000 wurde ein grobes Lichtkonzept für die Lüdenscheider Innenstadt durch das Deutsche Institut für Angewandte Lichttechnik mit Sitz in Lüdenscheid (DIAL) erarbeitet. 2002 fanden erstmals die LichtRouten statt, ein internationales Festival für Lichtkunst und Lichtdesign im öffentlichen Raum. Es folgten Festivals in 2003, 2004, 2006, 2010, 2013, 2018. Der ursprüngliche Gedanke war, das Festival als Biennale zu installieren, daraus wurde eine Triennale. Tatsächlich wurde jüngst im Hauptausschuss der Stadt Lüdenscheid das Bekenntnis ausgesprochen, in 2025 die LichtRouten stattfinden zu lassen, und danach auch regelmäßig.
Denkfabrik
„415 m über NN Denkfabrik“ − unter diesem Titel entstand unter anderem mit Mitteln der REGIONALE Südwestfalen 2013 des Landes NRW ein neues Viertel rund um den Lüdenscheider Bahnhof: „ein neuartiger Bildungs- und Weiterbildungsstandort… Zahlreiche Bildungs- und Forschungseinrichtungen, darunter die Phänomenta, das Kunststoffinstitut, das Institut für Umformtechnik oder das Deutsche Institut für angewandte Lichttechnik haben ihren Sitz im Bahnhofsquartier. Lüdenscheid wurde zu einem neuen Studienort der Fachhochschule Südwestfalen mit Studiengängen wie Maschinenbau, Kunststoff-, Medizin- oder Gebäudesystemtechnik“ (Website der Stadt Lüdenscheid). Ist dies das neue Image der Stadt: Eine Denkfabrik? Zieht der Studienstandort junge Menschen nach Lüdenscheid? Oder scheitert am Ende doch alles an der aktuellen, katastrophalen Verkehrssituation?
Am Ende bleibt die Brücke?
„Ach Lüdenscheid, das ist doch die Stadt mit der gesperrten Brücke“ – so hört man es allenthalben, wenn man „in der Fremde“ gefragt wird, wo man herkommt.
„Der Einzelhandel, sogar in der Innenstadt, verzeichne Umsatzverluste, die Transportkosten von Lieferdiensten und Spediteuren seien um über einen Viertel gestiegen, und natürlich seien auch Gastronomie und Tourismus betroffen, sagt Geruschkat. Viele Einwohner seien verzweifelt, weil sich selbst durch kleine Seitenstrassen Vierzigtonner ihren Weg bahnten. Deshalb hat die Stadt viele kleine Straßen für Lastwagen gesperrt, wodurch aber auch der lokale Lieferverkehr behindert wird. Dr. Ralf Geruschkat, Hauptgeschäftsführer der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen (SIHK) macht sich aber auch mittel- und langfristige Zukunftssorgen. Die Probleme auf der Straße und der Schiene verleide den Arbeitnehmern das Pendeln. Das schrecke auch viele Stellenbewerber ab, die vielleicht sonst in der Region arbeiten würden, jedoch in den größeren Städten im Ruhrgebiet wohnen bleiben wollten, sagt der SIHK-Hauptgeschäftsführer. Natürlich ist auch die Attraktivität der Region für Kongresse, Messen und andere Events gesunken, da sich niemand dem Dauerstau aussetzen möchte. Hier gehe es auch um −entgangene Zukunftschancen, sagt Geruschkat, immerhin sei Hagen/Lüdenscheid die stärkste Industrieregion in Nordrhein-Westfalen gemessen an dem in der Region höchsten Anteil an Beschäftigten in der Industrie im gesamten Bundesland.“ (Neue Züricher Zeitung/NZZ, 9.3.2022)
Und als wäre das nicht genug, prasseln immer neue Hiobsbotschaften auf die Bergstadt ein:
„Kostal Automobil Elektrik in Lüdenscheid schließt bis Ende 2024 alle Produktionsstandorte in Deutschland“ (Lüdenscheider Nachrichten, 26.06.2022).
„Schäden an Brückenpfeiler: Bahnstrecke nach Lüdenscheid dicht“ (Lüdenscheider Nachrichten (06.07.2022)
„#bridge please“ kann man auf großformatigen Plakaten an den Ein- und Ausfallstraßen der Stadt lesen – mehr flehentliche Bitte als Wunsch. In der Innenstadt versucht man, mit verschiedenen Events, Konzerten, Märkten usw. den Bürgern das Leben etwas angenehmer zu machen. Es gibt zahlreiche Vereine und Initiativen, die sich um ihre Stadt sorgen und sich fast trotzig um sie kümmern. Beispielhaft seien hier die zahlreichen Sportvereine genannt, aber auch Kirchengemeinden mit ihren Jugendorganisationen wie Pfadfinder und CVJM. Musik wurde in der Stadt immer großgeschrieben, davon zeugen heute Vereine wie „Willi&Söhne e.V.“, „Kalle e.V.“, „Bergstadtbrüder“ oder „Frieda e.V.“, die große und kleine Konzerte und Festivals organisieren. Zu Ostern heißt es „Burn the Fox“ und im Sommer gibt es einen Stadtstrand am Bahnhof. Die Gastronomie organisiert sich zu Events, es gibt eine Streetfoodfestival, einen wunderbaren Wochenmarkt und Mittelalter in der Altstadt. Es gibt eine tolle Stadtbücherei, eine über die Region hinaus bekannte Galerie, ein lebendiges Museum, ein Theater und eine bundesweit bekannte Technikausstellung. Diese Aufzählung könnte noch weitergehen. Wichtig ist vielleicht auch, dass die Bürger ihre Stadt wieder wahrnehmen und nicht nur nehmen, sondern auch geben – und einfach mal hingehen. Der Hang zum Leiden und Miesmachen ist groß, vor allen in den sozialen Medien.
Wohin geht die Stadt in der Zukunft, was wird man mitdenken, wenn man den Begriff „Lüdenscheid“ in der Zukunft hören wird? Hoffentlich am Ende dann doch Innovation, Licht und Bildung, Kunst, Kultur und Unterhaltung.
Oft entsteht aus einer Krise ein Neuanfang – und man kann es vielleicht mit Max Frisch halten: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“