Beam me up, Scotty! – Mobilität der Zukunft

Beam me up, Scotty! – Mobilität der Zukunft

Heute beschäftigen wir uns mit einer Königin. Einer alternden Schönheit, in die Jahre gekommen, runtergerockt. Und trotzdem steht sie wieder im Mittelpunkt. Die A 45, „Königin der Autobahnen“, genauer gesagt: eine ihrer Brücken. In 70 Meter Höhe spannt sich die Brücke 453 Meter über das Lüdenscheider Rahmedetal. 64 000 Fahrzeuge, davon 13.000 Lastwagen, haben die Brücke jeden Tag genutzt. Jetzt ist sie gesperrt. „Seit dem 2. Dezember ist Lüdenscheid das Epizentrum des deutschen Infrastrukturnotstands.“ (Neue Züricher Zeitung/NZZ, 9.3.2022)

„Da die Überlandwege nicht in bestem Zustand waren, konnten sich Fuhrwerke der Stadt nur unter Schwierigkeiten nähern.“ (Lüdenscheid und de Franzosentid 1806 – 1815, W. Zuncke, Ein Beitrag zur Geschichte der Stadt Lüdenscheid, 1913, S. 10)

Werfen wir einen Blick auf die Vorfahren dieser Asphalt-Königin, beginnend bei den Preußischen Staatschauseen. Sie sind die Vorläufer der deutschen Fernstraßen. Später wurden aus ihnen Reichsstraßen, die Fernverkehrsstraßen der DDR und die Bundestraßen der BRD. Die Verkehrswege made in Preussen bildeten die Grundlage für das heutige Straßennetz Deutschlands, viele Trassen sind in ihrem originalen Verlauf erhalten geblieben. Mit Beginn des Industriezeitalters zum Ende des 18. Jahrhunderts stellte der gestiegene Handel neue Anforderungen an die Verkehrswege, die seit dem Mittelalter über die sogenannten Heerwege verliefen, immer entlang der Höhen, dunkle Flusstäler meidend.

„Unser Straßenbau liegt im Argen“, so urteilte Freiherr vom Stein auf dem ersten westfälischen Landtag im Jahre 1826. Und auch Freiherr von Vincke legte die Strecke von Münster nach Hamm „lieber zu Fuß zurück“ als sich der Postkutsche anzuvertrauen, die für diese Strecke mehr als die doppelte Zeit benötigte. Von eigentlichen Straßen, den Chausseen, konnte bis Ende des 18. Jahrhunderts in Westfalen keine Rede sein. Tatsächlich war es dann die Grafschaft Mark, als erste Region in Westfalen, die in der Zeit von 1788 bis 1794 erste Chauseen bekam: von Meinerzhagen über Hagen und Bochum nach Steele und von Unna nach Herdecke – eine Maßnahme früher Wirtschaftsförderung im westlichen Sauerland.

Aus dem Jahr 1814 stammt die „Anweisung für den Bau und die Unterhaltung der Kunststraßen“, die noch bis in die Zeit des Nationalsozialismus wirkte: Breite 8,80 Meter, beidseitige Baumreihen, dahinterliegender Abwassergraben – so präsentieren sich noch heute unsere Bundes- und Landesstraßen.

Auch damals schon war die Finanzierung der Straßen das größte Problem: Verwaltung und Finanzen lagen bei den preußischen Ministerien, die Bauausführung war Aufgabe der Provinzialverwaltungen, später der Gemeinden. Mit der Übertragung der Straßenbaulast auf die Provinzialverbände versprach sich der Gesetzgeber eine fachlich bessere Betreuung, eine erhebliche Vereinfachung der Verwaltung und auch finanzielles Engagement.

Für kurze Zeit führte man eine Art „Maut“ ein: In speziellen Chausseehäusern in Fahrbahnnähe musste man ein Wegegeld entrichten. Jeder Frankreichurlauber kennt das…

Eine spezielles Lüdenscheider Modell war die Kreis Altenaer Schmalspur-Eisenbahn-AG, gegründet im Juli 1886, eine Aktiengesellschaft, deren Kapital zur Hälfte von Privatleuten und Unternehmern aufgebracht wurde, zur anderen Hälfte vom Preußischen Staat und der Landgemeinde Lüdenscheid. Ziel war es die vielfältige Kleineisenindustrie in den Tälern von Rahmede, Verse und Hälver an das Hauptbahnnetz anzuschließen, und somit den Export der heimischen Produkte zu gewährleisten. Die KAE wurde zum Erfolgsmodell. Das änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Währungsreform, also in den Jahren 1949/50, ergaben sich immer mehr Probleme. Vor allem die Einnahmen im Personenverkehr ließen zu wünschen übrig, obwohl man sich durch einen sehr dichten Fahrplan den Wünschen der Fahrgäste anpasste. Schwierigkeiten bereitete zunehmend der wachsende Kraftverkehr auf den engen Straßen, die die Bahn mitbenutzte. Der Personenverkehr wurde 1961 eingestellt, der Güterverkehr 1967.

Die Erfindung des Automobils gegen Ende des 19. Jahrhunderts beeinflusste den Straßenbau maßgeblich. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges stieg die Zahl motorbetriebener Fahrzeuge enorm an. Die Waren wurden zunehmend über die Straße transportiert und dafür Lastkraftwagen eingesetzt. Für die schweren Transporter waren die vorhandenen Chausseen nicht ausgelegt, sodass sich insbesondere in der Finanzdepression nach dem Ersten Weltkrieg der Zustand der Fahrbahnen extrem verschlechterte. Für Reparatur und Ausbau des Straßennetzes standen dem Provinzialverband jedoch auch während der kurzen Wirtschaftsblüte nach 1924 nur geringe Mittel zur Verfügung. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 konnten nur noch wenige Stadt- und Landkreise den Straßenbau fördern. Trotzdem stand Ende 1930 in Westfalen ein überörtliches Straßennetz von gut 11.000 Kilometern zur Verfügung.

„Nicht der Ausbau historisch gewachsener Straßen, sondern die Konzeption eines völlig neuen Fernstraßennetzes für den modernen Automobilverkehr: Das war die Idee, die in den 1920erJahren entwickelt wurde.“ (Peter André, Konradin Heyd, Jürgen Wecker in „Kulturlandschaft Autobahn“, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2011)

Als erste autobahnähnliche Schnellstraße gilt die AVUS in Berlin, die am 24. September 1921 eröffnet wurde. Dieser Prototyp wurde allerdings erst einmal als Rennstrecke genutzt. Die Bezeichnung Autobahn tauchte zum ersten Mal zu Beginn des Jahres 1927 in einer Fachzeitschrift auf. Der Begriff „Autobahn“ war somit, genauso wie die Idee dazu, schon lange vor der Vereinnahmung durch die NS-Propaganda gebräuchlich. Die erste Straße, die tatsächlich als Autobahn geplant worden war, ist die von 1929 bis 1932 gebaute, 18 Kilometer lange Strecke von Köln nach Bonn.

Mit dem Baubeginn des Reichsautobahnnetzes startete eine massive Propagandamaschinerie, die das Bild der Reichsautobahnen in der öffentlichen Wahrnehmung nachhaltig prägte und zum Teil bis heute nachwirkt. Ziel war es, die Reichsautobahn zu einem technischen Meisterwerk zu erheben und so zum Symbol für die Macht des NS-Staates zu machen. 3870 Kilometer Autobahnstrecke wurden bis Ende des Zweiten Weltkrieges fertiggestellt, auch unter Einsatz von Kriegsgefangenen, Häftlingen aus Konzentrationslagern und Zwangsarbeitern, die unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten.

„Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn“ (Kraftwerk, 1974)

Pläne für eine Autobahnanbindung der Region zwischen Ruhrgebiet, Sauerland, Westerwald und Mittelhessen gab es zwar vereinzelt schon in Reichsautobahn-Plänen, konkrete Planungen wurden allerdings erst nach dem Krieg in den 1950er Jahren durchgeführt, um eine zweite leistungsfähige Verbindung zwischen dem Ruhrgebiet und Süddeutschland zu schaffen. 1966 wurde das erste längere, 1971 das letzte Teilstück der A 45 zwischen Dortmund und Gießen dem Verkehr übergeben.

A 45

Baubeginn der Gebirgsstrecke zwischen Hagen und Lüdenscheid war 1963, 1967 wurde die Rahmedetalbrücke fertiggestellt. Am 24. Oktober 1968 eröffnete der damalige Bundesverkehrsminister Georg Leber den Abschnitt zwischen dem Kreuz Hagen und der Anschlussstelle Lüdenscheid, damals Lüdenscheid-Ost. Baukosten für 20 Kilometer: 165 Millionen DM, davon 70 Millionen DM für den Bau der sechs Talbrücken. Am 26. Oktober 1971 wurde das letzte Teilstück der „Sauerlandlinie“, der „Königin der Autobahnen“ zwischen Lüdenscheid und Freudenberg freigegeben. Die offizielle Eröffnung fand am 26. Oktober 1971 mit Bundeskanzler Willy Brandt und Verkehrsminister Georg Leber auf der Raststätte Sauerland bei Lüdenscheid statt.

Auch dank dieser Verkehrsverbindung mit der Bezeichnung A 45 stieg Südwestfalen zur drittgrößten Industrieregion Deutschlands auf, mit vielen „Hidden Champions“ und Global Playern aus der Provinz. Sie ist die „Hauptschlagader“ einer Region mit rund 450.000 Menschen. Und jetzt?

„Letzte Ausfahrt Lüdenscheid. Die Stadt im Sauerland blühte einst. Und verfiel. Gibt die Sperrung der Autobahn der Region jetzt den Rest?“ (Stern, 12.5.2022)

Seit Sperrung der Brücke gehen die Umsätze im Lüdenscheider Einzelhandel und im Hotel- und Gaststättengewerbe zurück, Stellenbewerber und Pendler aus dem nahen Ruhrgebiet werden abgeschreckt, Kongresse, Messen und Events werden abgesagt. Der wirtschaftliche Schaden für die Region, gerechnet auf die nächsten fünf Jahre – so lange soll der Brückenneubau im günstigsten Fall dauern – wird auf 1,8 Milliarden Euro geschätzt.

Stau

Vor einigen Wochen besuchte Michael Streck, Ex-Lüdenscheider und Stern-Autor, seine Heimatstadt – und zog Bilanz. Er sprach mit Bürgermeister Sebastian Wagemeyer, der jetzt auch Bürgerbeauftragter in „Brückenfragen“ ist und eine „Katastrophe für seine Bürger“ sieht, mit dem Vorsitzenden der Lüdenscheider CDU, Ralf Schwarzkopf, der „einen Plan für die Stadt“ fordert, den Aktivisten des Vereins „Willi & Söhne“, die „trotz aller Probleme das Potenzial dieser Stadt und ihrer Menschen sehen“, und dem Historiker und Gymnasiallehrer Dr. Dietmar Simon, der betont, dass „die Lüdenscheider Brückenbauer der Verständigung sind.“

Letztendlich ist die Rahmedetalbrücke ein Symbol für den maroden Zustand der Brücken und Straßen des Landes, „hochnotpeinlich für den Industriestandort Deutschland.“ (NZZ, 9.3.2022)

„Die Sache ist: Es geht ja nicht nur um die kaputte Brücke in Lüdenscheid, es geht um viele Straßen im Land, um ein Schienennetz, das völlig marode ist, und um die Frage, wer wie viel Geld für die Sanierungen bekommen soll“, so analysiert die Süddeutsche Zeitung am 9. März 2022. Der Zustand aller 28.000 deutschen Autobahnbrücken ist noch schlechter als angenommen. Viele Brücken, die älter als 35 Jahre sind, müssen neu gebaut werden. Seit 2010 ist bekannt, dass die Rahmedetalbrücke saniert werden muss – oder abgerissen. Die überlastete A 45 sollte auf sechs Spuren verbreitert werden. Immer wieder wurde eine Entscheidung verschoben.

Lasst und Brücken bauen

Zuletzt wurde die marode Brücke zum Aktionsort. Ende Februar bemalte eine Künstlergruppe rund um den Verein „Willi & Söhne“ die Fahrbahn mit drei Tonnen Farbe: „Lasst und Brücken bauen“, steht dort jetzt auf einer Länge von 300 Metern.

Die Rahmedetalbrücke als Symbol für Krise und Chance? Müssen wir Mobilität neu denken? Müssen wir Städte neu denken? „Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn“, kann nicht die Lösung sein?!

„Beam me up, Scotty“ (Raumschiff Enterprise, 1960er Jahre)

Wie aber könnte Mobilität in der Zukunft aussehen? E-Autos, die Strom abgeben statt nur zu „tanken“, selbstfahrende Busse, Flugtaxen: An der Umsetzung dieser Zukunftsvisionen wird in Berlin, in Südwestfalen, in Lüdenscheid gearbeitet. Und welche Rolle wird die Digitalisierung bei dieser Entwicklung spielen. (Nein, man muss nicht mehr 600 Kilometer zum Meeting nach München fahren oder gar fliegen…). Wird die Stadt der Zukunft wieder grüner, so wie zum Beispiel Kopenhagen, wo einst zubetonierte Mittelstreifen wieder blühen und das Klima verbessern. Zudem ist Kopenhagen die Stadt mit der besten Fahrradinfrastruktur weltweit. Diese Ideen und Zukunftsvisionen gilt es zu verhandeln. Die Innovationsregion um Lüdenscheid kann zumindest in industrieller Hinsicht ihren Beitrag zur Veränderung leisten.

Beam me up, Scotty! – Mobilität der Zukunft