Ist Versöhnung in Zukunft möglich? Fred Behrend und Lüdenscheid
Der Begriff „Versöhnung“, für den man gemäß des Dudens Synonyme wie „Aussöhnung“ oder „Verständigung“ verwenden kann, ist im deutschen Sprachraum seit 1945 mit einer spezifischen Bedeutung aufgeladen. Denn fast immer wird er seither in die Nähe des Begriffes der „Vergangenheitsbewältigung“ gerückt. Gesprochen wird von „Versöhnung“ im deutschen Zusammenhang vor allem dann, wenn mit den Staaten und Bevölkerungen ehemaliger Kriegsgegner Vergangenheit bewältigt und dann „Aussöhnung“ gestiftet werden soll. Vorrangig mag man z. B. an den Versöhnungsprozess zwischen Frankreich und Deutschland oder zwischen dem 1939 vom NS-Staat so schändlich überfallenen Polen mit der Bundesrepublik Deutschland denken.
Wenn es sich aber um Fragen des Dialogs zwischen Juden und bzw. oder dem Staat Israel mit Deutschland über die Vergangenheit von 1933 bis 1945 handelt, ist insbesondere bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen deutlich seltener ausdrücklich von Versöhnung die Rede. Das lässt sich z. B. überprüfen, indem man zum Vergleich Buch- oder Aufsatztitel heranzieht. Die Feststellung überrascht zunächst. Und sie verlangt nach einer Begründung. Dass ein Zusammenhang mit dem Holocaust bestehen dürfte, wird kaum zu bezweifeln sein. Doch warum herrscht offenbar große Behutsamkeit, ja Vorsicht vor, wenn es um die ausdrückliche Verwendung des Wortes „Versöhnung“ in einem Prozess geht, der wegen des Holocaust nie Züge des Selbstverständlichen aufweisen kann? Was bedeutet dies für den Versöhnungsprozess in Zukunft? Der Beantwortung der Frage soll sich auch dadurch angenähert werden, dass die Gedanken eines ehemaligen jüdischen Mitbürgers aus Lüdenscheid einbezogen und mitgeteilt werden.
In Lüdenscheid lebten 1933 insgesamt 270 jüdisch-stämmige Menschen bzw. Juden. Überlebt haben dürfte etwa die Hälfte dieser ermittelten Personen. Darunter ist Fred (in Lüdenscheid: Fritz) Behrend, der in den Jahren um 1990 einen intensiveren Kontakt mit dem damaligen Bürgermeister Jürgen Dietrich pflegte. Der spätere Ehrenbürger Dietrich hatte diesen über die Stadt Lüdenscheid Kontakt angebahnt und ihn durch gegenseitige Besuche in Lüdenscheid und New York auszubauen versucht. In den Argumenten des 1926 in Lüdenscheid geborenen Behrend besitzt die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Versöhnung“ eine besondere Relevanz. Behrends Vorstellungen davon waren mit denen Dietrichs nicht zur Deckung zu bringen. Auf das konkrete Beispiel ist noch einzugehen. Hier seien einige grundsätzliche Überlegungen vorausgeschickt, die die Möglichkeiten und Grenzen einer Annäherung der Vorstellungen von Versöhnung zwischen ‚den‘ Juden und ‚den‘ Deutschen in der Zukunft betreffen.
Für die deutsche Seite ist zunächst die Erkenntnis von Bedeutung, dass es bei dem zu Bewältigenden etwas gibt, das seitens „der Deutschen“ gegenüber „den Juden“ in Israel und der Welt nicht wiedergutzumachen ist. Diese Erkenntnis ist zunächst ernüchternd. Zwar finden individuelle Aussöhnungen immer wieder statt – und das mag hoffnungsvoll mit Blick auf das Engagement im langgestreckten Prozess der Aussöhnung stimmen. ‚Kollektiv‘ jedoch kann es eigentlich niemals eine Versöhnung des Judentums, „der Juden“ – bezogen auf die festumrissene Gruppe der Juden sowie dem Staat Israel – mit „den Deutschen“ geben. So war direkt nach 1945 auf offizieller jüdischer Seite zunächst die juristische Auseinandersetzung mit dem deutschen Verhandlungspartner vorrangig. Dazu bestand die Notwendigkeit, bei den Entschädigungsforderungen im Zusammenhang mit den Verbrechen sich als besonderes Kollektiv neu zu definieren – und zwar als ‚die Juden‘, über den jungen Staat Israel hinaus. Dazu schlossen sich Jüdinnen und Juden länder- und organisationsübergreifend zusammen. Das hatte es zuvor nicht gegeben. Von vorneherein ging es beim Prozess der „Aussöhnung“ also um rechtliche Fragen – Schuld und Sühne wurden in einen engeren rechtlichen Zusammenhang gestellt. Wenn man sich rechtlich verständigen wollte, dann war eine rechtliche Verständigung gewiss ‚kollektiv‘ möglich. Aber: War damit auch „Versöhnung“ möglich? Müssten aus formalen Gründen nicht alle Überlebenden und deren Familien, deren nähere Angehörige teilweise vollständig ausgelöscht wurden, dem ‚Ende der Sühne‘, der „Versöhnung“ sowohl emphatisch als auch sachlich zustimmen. Kann überhaupt erwartet werden, dass das geschieht bzw. dass das irgendwann einmal geschieht? Was soll das für eine Versöhnung sein, denen persönlich Betroffene nicht zustimmen, nicht zustimmen können?
Weder die intensive wissenschaftliche, literarische oder filmische Auseinandersetzung mit der Geschichte der von Deutschen an den Juden im In- und Ausland verübten Taten und Mordgräuel noch der deutsch-jüdische Dialog, nicht Entschädigungszahlungen und nicht Besuche von jüdischen Delegationen in deutschen Städten dürfen mit der Erwartung einhergehen, dieses alles seien Zeichen des Abschlusses des Prozesses der Versöhnung [des Wiedergutwerdens] oder zusammengenommen die Versöhnung selbst. In welchem Umfang zwischen Juden und Deutschen nach dem Holocaust Verständigungen möglich sind, hängt rund 80 Jahre nach dem Geschehenen vom Einzelfall ab. Wie weit die Beziehungen zwischen Deutschen und nach Deutschland zurückgekehrter Juden oder Jüdinnen wie etwa Margot Friedländer das „Wunder der Versöhnung“ (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) sichtbar werden lassen, betrifft ebenfalls den Einzelfall. Doch das individuelle Geschehen ist von der Versöhnung „der Juden“ mit „den Deutschen“ zu unterscheiden. Bei der Frage nach dem denkbaren Zeitpunkt des Erreichens einer kollektiven Versöhnung spielen Erwägungen über Zeiträume, der in ihnen real verlaufenden positiv oder negativ zu bewertenden geschichtlichen Prozesse und Zukunftserwartungen die entscheidende Rolle.
Dazu ist zunächst festzustellen, dass es objektive Faktoren geschichtlicher Prozesse gibt, die deren moralischer Kommentierung vorgelagert sind, wenngleich man sich das Gegenteil ersehnen würde. Konkret gehört dazu etwa, dass Menschen angesichts der zeitlichen Begrenzung ihrer Lebensspanne nichts unversucht lassen, Kräfte zu bündeln, die das eigene Überleben im individuellen, aber auch kollektiven Sinn sichern. Der Kampf ums Überleben steht dabei immer zugleich unter der Drohung des Todes der anderen. Sicher ist es eine großartige Leistung im Verhältnis von Staaten, Völkern, Religionsgruppen und Ethnien zueinander, Frieden zu stiften oder zu wahren. Und sicher werden es wie in der Vergangenheit auch in Zukunft verbrecherische, rassistische, revanchistische oder imperialistische Gründe sein, die Menschengruppen dazu veranlassen, die Leben der anderen mit Gewalt zu verkürzen. Unabweisbar ist aber, dass es ohne die Fähigkeit der Menschen, die Lebenszeitspanne der anderen gewaltsam zu verkürzen, nicht die Geschichte gäbe, die in den Geschichtsbüchern steht und die von Ötzi bis zum Ukraine-Krieg reicht. Die Vorstellung, dass auf von Tätern begangene Gräueltaten reflexhaft schnelle „Aussöhnung“ von Opfergruppen mit den Nachfolgegesellschaften der Täter erfolgen könne oder müsse, ist absurd – genauso wie eine Weltgeschichte ohne Gewalt als unrealistisch bezeichnet werden muss. Als angemessen erscheint es dagegen, dass in einem langgestreckten Prozess die zeitliche Erstreckung der Versöhnung mit der zeitlichen Erstreckung besonderer Schutzbedürftigkeit und aktiven Schutzes der Opfer, also derjenigen korreliert, deren Familien Gräuel zugefügt wurden. Anders: Die zeitliche Erstreckung der besonderen Schutzbedürftigkeit der Opfer – bzw. des aktiven Schutzes durch die Nachfolgenden der Tätergesellschaften oder der Rechtsnachfolger der Täter – dürfte mit der feststellbaren Qualität des Prozesses der Aussöhnung in Beziehung stehen. Für Überlegungen zur denkbaren zeitlichen Erstreckung des Versöhnungsprozesses bis zu dessen Abschluss in der Zukunft ist der je eigene Charakter der begangenen Gräuel, der verbrecherischen Handlungen und der mit ihnen verbundenen Absichten zu berücksichtigen. Was soll das heißen?
Das Judentum ist ca. 3000 Jahre alt, mit heute rund 15 Mill. Juden. Zu dessen Geschichte gehören punktuelle Verfolgung und systematische Verfolgungen. Was der NS-Staat verantwortete, war einmalig. Bei der Wannseekonferenz (20.01.1942) listeten die deutschen Täter über elf Mill. Jüdinnen und Juden auf, die vernichtet werden sollten, wovon bis 1945 im deutschen Namen circa sechs Mill. tatsächlich ermordet wurden. Der NS-Terrorstaat hatte sich kein geringeres Ziel gesetzt, als das Judentum zumindest in Europa und in der UdSSR auszulöschen. Die Geschichte der Menschheit ist durch den singulären Völkermord verändert worden. Die Zukunftserwartung einer nicht exakt greifbaren, aber sicher nicht geringen Zahl damaliger Deutscher schloss die Vorstellung vom Fortgang der Weltgeschichte ohne Jüdinnen und Juden ein. Sie hatte zu einer Verschiebung eines ethnischen Zukunftshorizontes geführt: In Europa werde es – so die Erwartung – zu einem bestimmten Zeitpunkt während des ‚Tausendjährigen Reiches‘ niemals wieder Jüdinnen und Juden geben. Angesichts des singulären Völkermordes, der in Europa durch die Vernichtung von sechs Mill. Juden ‚ewige‘ Folgen haben wird, ist der Zeithorizont für die Versöhnung zwischen „den Juden“ und „den Deutschen“ unabhängig vom individuellen „Wunder der Versöhnung“ ebenfalls in einen Zeitraum verlagert, dessen zeitliche Erstreckung keinen Fixpunkt aufweist, sondern mit einem in der ‚Ewigkeit‘ gelegenen Zukunftshorizont arbeiten muss.
Gibt es in Lüdenscheid das „Wunder der Versöhnung“ mit ‚den‘ Juden und woran könnte man es festmachen? Lässt sich eine Persönlichkeit mit biografischen Bezügen zu Lüdenscheid ermitteln, der über die Region und die Stadt Lüdenscheid hinaus Aufmerksamkeit zu Teil wurde und deren Worte oder Handlungen auf die gestellten Fragen Antworten zu geben versprechen? Eine dieser Persönlichkeiten, der die Erfahrung eines Konzentrationslagers erspart blieb, hat sich intensiv mit den hier gestellten Fragen auseinandergesetzt. In New York lebt heute hochbetagt Fritz (heute Fred) Behrend. In deutschen Konzentrationslagern verlor er Familienangehörige. 2017 veröffentlichte er autobiografische Aufzeichnungen unter dem Titel „Rebuilt from Broken Glass. A German Jewish Life Remade in America“. Behrendt wurde in Lüdenscheid geboren. Die Eltern hatten bis kurz nach der Machtergreifung das Geschäft für Haushaltstextilien „Robert Stern“ in der Wilhelmstraße geführt. Der Vater kam ins KZ, durfte aber mit der Familie ausreisen.
Behrend kehrte 1990 und erneut 1991 nach Lüdenscheid zurück. Wiederholt traf er auf den damaligen Bürgermeister Jürgen Dietrich, die eine Freundschaft aufbauten. Die deutsche Berichterstattung darüber enthielt wiederholt den Begriff der „Versöhnung“: „Stadt baut eine neue Brücke der Versöhnung“ hieß es während Dietrichs Besuch in New York mit einem Foto von Dietrich und Behrend am Hudson River. Und die Headline in der Westfälischen Rundschau am 28.10.1991 lautete „Ein echtes Zeichen der Versöhnung“, nachdem Behrend den Museen der Stadt Lüdenscheid eine handgeschriebene Megillah aus der Zeit um 1650 übergeben hatte. Die Headlines – so Behrend 2017 – sprachen Bände über den deutschen Gemütszustand („German psyche“) und wie die deutsche Nation auf ihre verdorbene Vergangenheit („tainted past“) schaute. Der Begriff „Versöhnung“ („reconciliation“) sei für die Deutschen so wichtig, weil er für viele Deutsche einen sehnlichsten Wunsch im Zusammenhang mit ihrer vormaligen jüdischen Bevölkerung beträfe. Die Deutschen - so Behrend - würden ihr Schuldbewusstsein gerne beruhigen und den Holocaust der Vergangenheit überlassen. Sie würden sich [gerne unbelastet] voran begeben und sie würden es [gerne] bald tun, obwohl in der Realität diese Versöhnung möglicherweise Generationen entfernt sei. Beim Besuch Behrend bei der Loge wurde vom Logenmeister der Begriff Vergebung („forgiveness“) ins Spiel gebracht. Die Bitte um Vergebung lag weit jenseits der Grenze, die Behrend ertragen konnte.
Aber auch Versöhnung war keineswegs das, was Behrend mit der Übergabe der Megillah an das Museum verband. Dass Dietrich den Begriff – und im Anschluss die Westfälische ‚Rundschau – bei der offiziellen Übergabe verwandte, störte ihn damals, es nervte ihn geradezu. Dachte man auf der Empfängerseite tatsächlich, die Versöhnung sei vollzogen („everything was OK between us“), weil er eine Purim-Schriftrolle als Geschenk übergeben hatte?
Ist Versöhnung möglich? Hilfreich waren Restitutionszahlungen, hilfreich sei auch die doppelte Staatsbürgerschaft. Das waren und sind Schritte die Behrend für hilfreich hält auf dem Weg hin zu einer Versöhnung, die möglicherweise noch Generationen entfernt sei. Wie viele Generationen – das lässt Behrend offen. Vielleicht ist sie auch zeitlich am Horizont zu sehen – kommt man dem Horizont aber näher, verschiebt er sich.