Lüdenscheider Willkommenskultur nach den schwierigen 1990ern – Eine bleibende Zukunftsaufgabe?
Na klar, es ist nur ein Rap-Song, aber sein Text sagt viel aus über die Stimmung Anfang der 90er Jahre. „Baseballschlägerjahre“ werden diese Jahre auch genannt, in denen sich Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und Wohnhäuser von Menschen mit Migrationshintergrund häuften, in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln und Solingen. „Das Boot ist voll“ hetzten die Republikaner, und in den Medien und bei Politikern macht das Wort „Asylmissbrauch“ die Runde.
Am 3. Oktober 1993 nahmen die Lüdenscheider Rapper „Anarchist Academy“ die Benefiz-Single „Solingen… willkommen im Jahr IV nach der Wiedervereinigung“ in einem Tonstudio in Bergkamen auf − ein halbes Jahr nach dem Brandanschlag auf das Wohnhaus der türkischen Familie Genç vom 29. Mai 1993 in Solingen, bei dem fünf Frauen und Mädchen ums Leben kamen und 14 Familienmitglieder zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden. Die damaligen „Anarchist Academy“-Bandmitglieder DJMoE, Babak, Deadly T, Big B, L.J. und Bütti wollten ein Statement abgeben. „Solingen steht für uns als Symbol. Es beinhaltet die immer deutlicher zu spürende Tendenz der Alltäglichkeit des Faschismus in unserer Gesellschaft. (…) Widerstand ist Bürgerpflicht!“, schreiben sie im Booklet zur Veröffentlichung.
Am 26. Mai 1993 wurde im Bundestag der sogenannte Asylkompromiss verabschiedet. In dem damals neu eingeführten Artikel 16a steht nach wie vor der Satz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ „Die vier weiteren ausführlichen Absätze kündigen dann allerdings drastische Einschränkungen an: Wer über sogenannte sichere Drittstaaten auf dem Landweg nach Deutschland einreist oder aus einem sicheren Herkunftsstaat kommt, soll sofort an der Grenze zurückgeschickt werden können. Da alle Nachbarstaaten Deutschlands als sicher gelten und kaum ein Flüchtling die Möglichkeit hat, per Flugzeug herzukommen, bedeutete das de facto die Abschaffung des Asylrechts“ (Deutschlandfunk, 26.05.2013). Dies war eine eine Entscheidung, die wohl auch unter dem Eindruck der Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen stand. Vom 22. bis zum 26. August 1992 gab es im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen schwere rassistisch und fremdenfeindlich motivierte Ausschreitungen. Im Verlauf der vier Tage gerieten dabei 150 Menschen in akute Lebensgefahr, nachdem ein Wohnhaus ehemaliger vietnamesischer DDR-Vertragsarbeiter in Brand gesetzt worden war. Mehr als 200 Polizisten wurden verletzt, einer davon schwer“ (Süddeutsche Zeitung, 25. August 2022).
Auch in Lüdenscheid gab es in den 90er Jahren eine sehr aktive rechte Szene. Einer der bundesweit größten Versandunternehmen für Rechtsrock- und Neonazidevotionalien hatte seine Geschäftsräume mitten in der Stadt, direkt neben den Proberäume verschiedener lokaler Rock- und Rap-Bands. Ende 1996 wurden die Betreiber vor dem Hagener Landgericht wegen Volksverhetzung und Verbreitung von Kennzeichen einer verfassungsfeindlichen Organisation zu Freiheitsstrafen verurteilt. Immer wieder musste Lüdenscheid Neonaziaufmärsche mit bundesweiter Beteiligung erleben. Lüdenscheider Bürger, die sich öffentlich gegen Rechts positionierten, wurden bedroht.
Am 21. Dezember 1996 kam es nach einer Demonstration gegen den Neonaziversand zu Ausschreitungen, 53 Demonstranten aus dem Umkreis der Antifa wurden verhaftet. Hermann Morisse, damals Fraktionschef der Lüdenscheider Grünen, kündigte eine Klage gegen die Polizei an, weil er beim Versuch zu vermitteln beschimpft worden war. Zuvor war ein Foto samt Adresse des Ratsmitgliedes in einer rechtsradikalen Zeitung aufgetaucht, damals eine gängige Masche, Angst zu verbreiten (Quelle: Westfälische Rundschau, 22.12.1996). Tatsächlich ergingen vor dem Lüdenscheider Amtsgericht fast schon „weise“ Urteile gegen die zum Teil vermummten Demonstranten. „Aus seiner Sicht hatte der Angeklagte einen verständlichen Grund, die Sturmhaube zu tragen. Er wollte sich nicht vor der Polizei, sondern vor den Faschisten verbergen“, begründete Richter Klaus Wille im Mai 1997 die Einstellung des Verfahrens gegen einen damals 25-jährigen Demonstranten (Quelle: Westfälische Rundschau, 31.05.1997). Dies war ein Urteil mit Signalwirkung. Aus der im Jahr 1996 gegründeten Autonomen Antifa Lüdenscheid, die einen großen Teil zur endgültigen Schließung des Neonaziversandes beigetrug. Daraus entwickelte sich das „Bündnis gegen Rechts“, das bis heute besteht.
Lüdenscheid ist heute eine Stadt, in der über 100 Nationen friedlich zusammenleben. Die Ausstellung „Wir hier – Zuwanderung und Migration nach Lüdenscheid und in die Märkische Region“ im Jahr 2012, ein von der Politik angeregtes Projekt der Museen der Stadt Lüdenscheid, war sehr ambitioniert und in vielerlei Hinsicht erfolgreich. Ein innovatives Vorzeigeprojekt, das deutschlandweit für Interesse gesorgt hat. Das Konzept: Die Menschen mit Migrationshintergrund selbst sollten ihre Geschichte erzählen. Sie sollten ihre Geschichten und ihre Objekte mitbringen. Dieser sehr partizipatorische Ansatz sorgte für ein Jahr voller multikultureller Begegnungen. Das Museum wurde zu einem Begegnungsort der Kulturen. Vertriebene des Zweiten Weltkrieges, Griechen, Türken, Araber, Italiener, Portugiesen, Aleviten, Kurden feierten gemeinsam ihre traditionellen Feste. Es gab Kontroversen, Auseinandersetzungen, Diskussionen – öffentlich im Museum. Das Haus an der Sauerfelder Straße wurde zum tatsächlichen Diskursort. Bis heute fühlen sich die Migranten-Communities an das Haus gebunden. Man ist Ansprechpartner für Veranstaltungen und Projekte.
In Lüdenscheid wurde durch zahlreiche engagierte Bürger – vor allem rund um die Lüdenscheider Friedensgruppe − eine aktive Erinnerungskultur gestaltet. „Zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Lüdenscheid und zum Schutz der Menschenwürde heute haben Bürgerinnen und Bürger die Ge-Denk-Zellen geschaffen“, heißt es in der Broschüre zu der Mahn- und Dokumentationsstätte „GeDenkZellen“, die am 23. November 2012 – nach durchaus kontroversen Diskussionen in der Stadtgesellschaft – in den ehemaligen NS-Arrestzellen des Alten Rathauses eröffnet wurde. Durch den Künstler Gunter Demnig wurden im Jahr des Stadtjubiläums 2018 die ersten Stolpersteine in der Lüdenscheider Altstadt verlegt. Sie sollen an die jüdischen Opfer und Verfolgten des Nazi-Regimes erinnern, die in der Bergstadt gelebt haben.
Eine Willkommenskultur hatte sich in der Stadt entwickelt, was sich besonders in den Jahren 2015/16 zeigte. Ein offener Umgang der Verantwortlichen in der Stadt, auch mit den Schwierigkeiten und Problemen, die die Unterbringung der Schutzsuchenden mit sich brachte, trug dazu bei, dass in der Bevölkerung eine große Hilfsbereitschaft zu spüren war. Das hat sich auch bei der Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine in diesem Jahr verstetigt.
Struktureller Rassismus und offene Fremdenfeindlichkeit, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten in zahlreichen Regionen der Deutschlands zeigte und immer noch zeigt, scheint in Lüdenscheid weitestgehend kein Problem mehr zu sein.
Allerdings: „Lüdenscheid ist eine von nur noch zwei Städten in NRW, in denen die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) bei den Kommunalwahlen ein Mandat für den Stadtrat errungen hat“, so steht es im Jahresbericht 2020 des Verfassungsschutzes.
„Der soziale und kulturelle Friede in unserer Stadt möge zukünftig gewahrt bleiben“, heißt es im Vorwort zum Begleitband der Ausstellung „Wir Hier!“. Und weiter: „Das Ziel für eine gemeinsame Zukunft muss es sein, das Trennende, wenn nicht zu überwinden, dann doch zumindest zu akzeptieren und das Anderssein gegenseitig zu tolerieren.“ Das ist tatsächlich eine der großen Aufgaben für die Zukunft, die in dieser Stadt nur von allen gemeinsam bewältigt werden kann.