Ehrungen verdienter Bürgerinnen und Bürger in der Zukunft
Die Stadt Lüdenscheid würdigt herausgehobenes Engagement zum Wohle unseres Gemeinwesens bzw. dessen Bürgerinnen und Bürger mit vielfältigen Auszeichnungen. Vor allen anderen Ehrungen ist das Ehrenbürgerrecht zu nennen – zweifelsohne die höchste Form der Anerkennung durch die Stadt. Der Rat stiftet auch den „Ehrenring der Stadt Lüdenscheid“. Er kann Persönlichkeiten auszeichnen, die sich um das Wohl und Ansehen der Stadt verdient gemacht haben. Verliehen wird zudem die „Ehrenplakette der Stadt Lüdenscheid“. Bei herausgehobenem Engagement im Ehrenamt gibt es die „Ehrennadel der Stadt Lüdenscheid“. Das Land NRW und der Bund haben gleichfalls in den letzten Jahrzehnten Verdienstorden an Lüdenscheiderinnen und Lüdenscheider verliehen. Alle diese Persönlichkeiten leben mitten unter uns, wenn sie ihre Ehrungen erhalten.
Doch denkbar ist auch die Ehrung von bzw. akzentuierte Erinnerung von bereits verstorbene Personen. Nach Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft in Lüdenscheid wurden mehrere Straßen benannt. Man denke an Heini Wiegmann, der im Alter von 21 Jahren kurz vor Kriegsende von einem NS-Standgericht zum Tode verurteilt und in Lüdenscheid erschossen worden ist.
Seit 2020 heißt eine Lüdenscheider Schule nach der national bedeutsamen, 1927 verstorbenen Malerin Ida Gerhardi, deren Lebensweg eng mit Paris, Berlin, Hagen und in besonderer Weise mit Lüdenscheid verbunden ist.
Und der 200. Geburtstag des in Lüdenscheid geborenen Journalisten, Kulturhistorikers und Politikers Karl Grün (1817-1887), der im deutschen Vormärz und während der Revolution von 1848/49 zu den populären Persönlichkeiten der demokratisch-frühsozialistischen Opposition gehörte, bot den Anlass, den „Kleinen Sitzungssaal“ des Lüdenscheider Rathauses nach ihm zu benennen. In den Saal gelangt man, nachdem man das Forum des Rathauses durchschritten hat. Dieses trägt den Namen des 2010 verstorbenen Ehrenbürgers Jürgen Dietrich, der von 1975 bis 1994 ehrenamtlicher Bürgermeister gewesen war. Plätze, Straßen, Gebäude, Säle – sie alle können genutzt werden, um gezielt an Personen, deren Schicksal und an deren Leistungen zu erinnern.
Wenn eine Stadt wie Lüdenscheid Persönlichkeiten oder mit ihnen verbundene besondere Leistungen bzw. Vorgänge Jahre oder Jahrzehnte nach deren Tod gezielt im kollektiven Gedächtnis der Stadt bzw. Region verankern oder diese Persönlichkeiten einfach „nur ehren“ möchte, so setzt dies in der repräsentativen Demokratie eine geschichtspolitische Diskussion in der Politik, in der Verwaltung und gelegentlich in größeren Teilen der Stadtgesellschaft voraus. Ist ein Vorschlag aus unserer gegenwärtigen Perspektive in einem hohen Maße konsensfähig, dann ist eine solche Benennung weitgehend problemlos: Stadt und Stadtgesellschaft müssen es nur wollen.
Möchte eine Stadtgesellschaft Plätze, Straßen, Gebäude und Säle nach Persönlichkeiten benennen, so ist das geschichtspolitisch ein komplexes und manchmal riskantes Unterfangen, wenn es um Persönlichkeiten geht, deren Biografien maßgeblich von den geschichtlichen Vorgängen der Jahre 1933 bis 1945 (in Einzelfällen auch während des Ersten Weltkrieges) geprägt worden sind. Die Komplexität der Fragestellungen und die erforderliche Genauigkeit der historischen Recherchen, die an die Biografien dieser Persönlichkeiten heranzutragen bzw. zu erarbeiten sind, darf man nur dann unterschätzen, wenn man die Folgen der Missachtung nicht fürchtet. Manchmal sind die Erträge nationaler oder internationaler Forschung hilfreich; und dann bedarf es kaum eigener Anstrengungen. Geht es hingegen um national bekannte Persönlichkeiten aus der eigenen Stadt, zu denen wissenschaftlich fundierte biografische Forschungen nicht vorliegen, handelt man gegebenenfalls grob fahrlässig, wenn man solche Persönlichkeiten ‚biografisch ungeprüft‘ für Ehrungen vorschlägt. Es ist nicht auszuschließen, dass die städtische Geschichtspolitik schweren Schaden nimmt. Bei der nachfolgenden Argumentation werden drei Gruppen von Persönlichkeiten unterschieden. Erstens liegt bei Opfern der NS-Terrorherrschaft der Schwerpunkt der Personenrecherche weniger auf der Erarbeitung der Gesamtbiografie als auf der Klärung der Umstände ihres Todes, der Geschichte ihrer Verfolgung und der Beschreibung des Unrechtshandelns des NS-Staates. Obschon diese generalisierende Aussage über den Forschungsschwerpunkt durch Einzelfälle widerlegt werden kann, so wird doch das Erinnern wie bei einem Brennpunkt fokussiert: Die Namen der Opfer sollen als Opfer in Erinnerung bleiben; ein typisches Beispiel hierfür sind die „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig. – Das verbrecherische Handeln der Täterinnen und Täter darf nicht vergessen werden, muss miterinnert werden. Mit dem Vergessen nämlich verflüchtigt sich die Schuld: Unterlässt oder verweigert eine Stadtgesellschaft die Erinnerung an die Verbrechen in der eigenen Geschichte bzw. an ihnen beteiligte Persönlichkeiten, gehen die Täter aus ihren Verbrechen erinnerungskulturell gleichsam straffrei hervor, weil man sie und ihre Taten aus dem gemeinsamen geschichtlichen Erinnern entlässt.
Es existiert zweitens eine weitere Gruppe von Persönlichkeiten mit einem lebensgeschichtlichen Schwerpunkt während der NS-Zeit – Persönlichkeiten, die nicht zu der vorgenannten Gruppe der Opfer gehören, deren Namen aber gleichfalls Straßenschilder seit vielen Jahren tragen. Bei der Erforschung dieser Biografien ist größte Sorgfalt angebracht und die Schlüsse, die man im Hinblick auf „Ehrungen“ daraus zieht, müssen immer verhältnismäßig sein.
In einigen Fällen ist der geschichtliche Befund eindeutig: Etwa der durch einen famosen Film bekannt gewordene Name eines 1939 der NSDAP beigetretenen Unternehmers findet sich auf den Straßenschildern mehrerer deutscher Städte, darunter Metropolen wie Köln und Frankfurt a.M.: Gemeint ist Oskar Schindler, der circa 1.200 bei ihm angestellte jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor der Ermordung rettete. Schindlers Handeln wird weltweit gerühmt, so dass kaum vorstellbar ist, dass seine Parteimitgliedschaft mit dem Ziel thematisiert werden könnte, Oskar Schindler-Straßen wieder umzubenennen.
Ein anders gelagertes Beispiel bezieht sich auf Völkerrechtsverletzungen während des Ersten Weltkrieges – hier ist unmittelbar die Lüdenscheider Geschichtspolitik betroffen. Es geht um den BAYER-Generaldirektor Carl Duisberg (1861-1935), der in Leverkusen als Ehrenbürger geführt wird und sich um die Entwicklung dieser Stadt und der BAYER-Werke außerordentliche Verdienste erwarb. Weltweit sind Institutionen noch heute nach Duisberg benannt. Allerdings haben Städte wie Dortmund und Lüdenscheid – hier wurde 2014 die Umbenennung des Carl Duisberg-Weges beschlossen – sich entschieden, Duisbergs Handeln während des Ersten Weltkrieges zum Anlass zu nehmen, die aktiv kommunal geförderte Erinnerung an ihn zu unterlassen. Duisberg hatte während des Krieges den Einsatz von Giftgas und die Deportation belgischer Zivilisten zur Zwangsarbeit ins Deutschen Reich gefordert. Erinnerungskulturell spannt sich in der deutschen Erinnerung ungeachtet der unbestreitbaren Verdienste Duisbergs, der zwischen 1926 bis zum Tod 1935 Aufsichtsratsvorsitzender der I.G. Farben war, beim Einsatz von Gas zur Menschenvernichtung und beim Thema Zwangsarbeit ein Bogen zum deutschen Handeln während der NS-Terrorherrschaft. Zu Persönlichkeiten wie Schindler oder Duisberg liegen umfangreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen vor – man kann sich ohne eigene Forschungen eine qualifizierte Meinung bilden.
Zurück nach Lüdenscheid: Es gibt perspektivisch bei „Ehrungen verdienter Lüdenscheiderinnen und Lüdenscheid in der Zukunft“ vielerlei zu bedenken. So findet man bei Wikipedia eine „Liste von Persönlichkeiten der Stadt Lüdenscheid“, die eine Übersicht zu Persönlichkeiten wie Ehrenbürger, Söhne und Töchter Lüdenscheids sowie bekannte Einwohner der Stadt enthält. Die Liste ist zunächst in ihrer Zusammensetzung generell fragwürdig und wirft immer mehr und weitere Fragen auf. Untereinander aufgeführt sind die in Lüdenscheid geborenen Hans Goudefroy (1900-1961), der kommunistische Widerstandskämpfer Werner Kowalski (1901-1943) sowie das Holocaust-Opfer Walter Süskind (1906-1961), der 600 jüdische Kinder vor dem Holocaust rettete. Ja – das formale Kriterium dieses Teils der Liste ist der Geburtsort Lüdenscheid. Doch wer stellt diese Listen auf?
Daher gilt: Drittens ist bei der Nennung von Namen auf Listen, mit denen Lüdenscheid eine profilierte Außenwirkung erzielt, ein Mindestmaß an biografischen Kenntnissen erforderlich. Wer leistet den erforderlichen Beitrag zur Erforschung der Biografie des Vorstandsvorsitzenden der Allianz Versicherungs-AG Hans Godefroy, der bereits vor 1945 in einer Spitzenstellung bei der Allianz als der größten Versicherung des nationalsozialistischen Staates persönlich eine bedeutende Lenkungsfunktion innerhalb des NS-Wirtschaftssystems besaß?
Zu der Liste gehört überdies eine Reihung von „bekannten“ Persönlichkeiten, die nicht in Lüdenscheid geboren wurden, dort aber leben oder gelebt hatten. Dass auch hier die Nennung einiger Personen Fragen aufwirft und vielleicht eine Herausnahme empfehlenswert ist, muss mutmaßlich nach Durchsicht durch eine Anzahl repräsentativer Dritter kaum noch begründet werden.
Umgekehrt: Sollten nach einigen der genannten Persönlichkeiten in unserer Stadt nicht Straßen oder Plätze benannt werden? Da gab es den Mitbegründer einer „Demokratischen Partei“ im Deutschen Kaiserreich, dessen Lebensmittelpunkt Lüdenscheid war: Stünde es der Stadt nicht gut zu Gesicht, bei nächster Gelegenheit zur demokratischen Traditionspflege den demokratischen Parteimitgründer und Vorsitzenden Julius Lenzmann (1843-1906) aufzuwerten?
Und warum fehlen bedeutende Namen in dieser Liste: Da gab es den deutschen Mediziner, Gynäkologen und vor allem Enzyklopädisten, nach dessen Namen berühmte Handbücher benannt sind und dessen Familienname gleichsam zur Marke mutierte. Gemeint ist Willibald Pschyrembel (1901-1987), der seine Jugend in Lüdenscheid verbrachte. Heute ist der „Pschyrembel“ der Inbegriff eines medizinischen Handbuches. Vermutlich wirklich alle Ärztinnen und Ärzte in der Bundesrepublik, alle Medizinstudentinnen und Medizinstudenten in Deutschland kennen den Pschyrembel.
Wer die Zukunft gewinnen will, sollte sich in der Gegenwart dafür entscheiden, was oder an wen er mit qualifizierten Begründungen gezielt erinnern oder bestens begründet nicht erinnern möchte.